Blick zurück : Mailänder Überlandbahnen

Report 12: “Tranvie Interurbane Milano”
Überlandbahnen in der Lombardei

Die erste Überlandstraßenbahnen in der Region Mailand wurde 1876 eröffnet (Milano – Monza). Es war eine Pferdebahn, auf der Doppelstockwagen verkehrten. Die Durschnittsgeschwindigkeit betrug lediglich 10-15 km/h. Ab 1877 gab es dann eine mit Dampflokomotiven betriebene Linie von Milano nach Vaprio d’Adda (über Gobba und Gorgonzola). Danach wuchs das Netz der Überlandstraßenbahnen sehr schnell mit Strecken nach Lodi, Bergamo, Pavia, Gallarate und Como. Ende 1881 gab es um Mailand herum ein dichtes Netz von über 300 km.


↑ OM Tw 109 im Deposito Varedo, 22.5.1983. 4 Wagen (Tw 106-109) wurden 1931 von Officine Meccaniche gebaut. Ursprünglich fuhren sie auf der Strecke Milano – Vimercate (1200 Volt), wurden aber im Januar 1973 zur Desio Linie (600 Volt) abgegeben. Am Ende ihres Lebens verkehrten sie als “Diretto”-Züge zwischen Desio und Carate (mit 2 Bw).


↑ Emilia Tw 92 in der “stazione” piazza Sire Raul, 24.8.1969

Eine Übersicht über die Überlandlinien im Raum Mailand zwischen 1939 und 2002 (gezeichnet von Marco Lambruschi):



↑ Sw 845 abfahrbereit nach Vaprio in der piazza Aspromonte, 5.7.1964. Treno Bloccato 845-808-846 wurde 1962 aus den alten Wagen 353-137-354 umgebaut. Alle anderen Wagen der Reihe 800 (Baujahr 1964) erhielten Mitteleinstiege, analog der Reihe 500.

Die in den 30er Jahren noch existierenden Dampfbahnen wurden fast ausnahmslos stillgelegt. Es handelte sich überwiegend um wenig profitable Strecken, die größtenteils zudem einen Parralelverkehr zur Staatsbahn boten (Milano – Pavia, Milano – Lodi und Bergamo – Treviglio – Lodi). Die in den 20er Jahren eingeführten motorstarken Triebwagen der Reihen “Desio” und “Reggio Emilia” versehen ihren Dienst zum Teil noch heute. Die Überlandstrecken der S.T.E.L. (Società Trazione Elettrica Lombarda) hatten ursprünglich eine weiße Farbgebung und die Bahnen wurden daher von der Bevölkerung als die “weiße Tram” bezeichnet.

Die städtische ATM übernahm 1939 alle Überlandstrecken ausgenommen die Linien Milano – Gallarate und Monza – Cantù. Die Linien wurden neu geordnet und die grünliche Farbgebung (analog der städtischen Wagen) eingeführt. Während des zweiten Weltkriegs verkehrten die Bahnen nur sehr unregelmäßig und es gab zumeist nur einige wenige Fahrten pro Tag (i.d.R. Züge mit Damplokomotiven).


↑ Ein Treno Bloccato (Sw 831) erreicht die Endstation Gorgonzola, 13.8.1973

aktueller Wagenpark

  • Motrici Tipo Desio Tw 44-49 (Carminati e Toselli 1926) – 6 Wagen. Diese Fahrzeuge sehen aus wie typische Überlandbahntriebwagen aus den USA und haben einen Mitteleinstieg und Bogenfenster (wie auch Tw 85-92). Die Höchstgeschwindigkeit beträgt 40 km/h und es gibt 36 Sitzplätze (Holzbänke). Die Elektrik ist ausgerüstet für die 600 Volt-Fahrleitung des Brianza-Netzes (analog der städtischen Trams). Es können bis zu 5 Beiwagen (156 t Gewicht) geschleppt werden. Einige Tw wurden gelegentlich auch der Strecke nach Monza eingesetzt, wo sie die “Schnellzüge” mit 2 Bw bedienten. Tw 45 (in grün) wird derzeit als ATw eingesetzt. Die Tw 46-48 sind als Reserve abgestellt. Tw 49 wurde im Dezember 2000 verschrottet.

    ↑ Tw 48 Deposito Desio, 13.4.1994

 

  • Motrici Tipo Reggio Emilia Tw 85-92 (Officine Meccaniche Italiane Reggio Emilia 1928) – 8 Wagen. Diese Fahrzeuge konnten ursprünglich sowohl auf dem Brianza-Netz, als auch auf dem 1200 Volt-Adda-Netz verkehren. Nachdem 1968 auf den Adda-Linien die “Treni Bloccati” eingeführt wurden, erfolgte die Umsetzung ins Brianza-Netz. Tw 87 trägt die hübsche grüne Farbgebung der 30er Jahre, die restlichen Fahrzeuge (Tw 85, 89-90, 92) sind orange. Tw 88 wurde im Dezember 2000 verschrottet. Einer der vorhandenen Tw wird morgens im “schweren” Morgenzug von Limbiate nach Affori eingesetzt.

    ↑ Tw 90 führt einen Zug durch Gorgonzola, 9.6.1962

 

  • Motrici Tipo Breda Tw 110-15 (Breda 1935) – 6 Wagen. Leider hat lediglich der Tw 114 bis heute überlebt.

    ↑ Tw 111 in der via Messina, 14.6.1991

 

  • Motrici Tipo OEFT Tw 116-23 (Tallero 1937) – 8 Wagen. Nur ein Fahrzeug dieser Reihe, Tw 122, wurde aufbewahrt. Zusammen mit Tw 114 ist er allerdings abgestellt.

    ↑ Tw 122 “stazione” via Valtellina, 29.5.1978

 

  • Motrice Tipo O.M.S. (“littorine”) Tw 124-128 (OMS 1942) – 5 Wagen. Entwickelt wurde diese formschöne Baureihe aus den erfolgreichen OEFT-Tw von 1937. Die stromlinienförmigen Wagen schaffen allerdings nur 45 km/h und verkehrten daher früher nur im lokalverkehr auf der Bahn Milano – Monza (1 Tw mit bis zu 3 Bw). Als die Strecke am 2.10.1966 aufgegeben wurde, kamen die “littorine” auf der kurzen Zweiglinie Milano – Milanino zum Einsatz, dort allerdings nie mit Bw. Am 19.3.1999 wurde die Reihe abgestellt. Tw 125 wurde im Dezember 2000 verschrottet und die beiden verbliebenen Tw 124 und 128 im Deposito Desio abgestellt.

    ↑ Tw 128 “stazione” via Valtellina, 8.6.1991

 

  • Treno Bloccato – Diese Fahrzeuge entstand 1961-64 aus älteren Wagen speziell für die modernisierte Adda-Linie. dort wurden Sie 1972 durch U-Bahn-Fahrzeuge abgelöst. Die Reihe “500” (12 Tw und 24 Sw) besteht aus führerstandslosen Triebwagen, die zwischen zwei Steuerwagen gekuppelt wurden. Die Reihe “800” (ursprünglich 10 Tw und 20 Bw) sind identisch. Mit der Eröffnung der U-Bahn-Linie 2 gelangten einige auf der Reststrecke Gorgonzola – Vaprio zum Einsatz (1978 aufgegeben). In den 70er Jahren fuhren diese Triebzüge während der morgentlichen HVZ als Doppeleinheiten (2 Treni Bloccati) mit zusätzlich bis zu 4 Bw oder im Dreierpak (3 Treni Bloccati) und verursachten riesige Verkehrsstaus in Mailand. Außerhalb der HVZ reichte 1 Triebzug mit 2 Bw. 1981, nach dem Umbau zur U-Bahn der Bahn Sire Raul – Vimercate (U-Bahn nach Gobba und Cologno Nord) gelangten die Fahrzeuge ins Brianza-Netz. Prototyp Treno Bloccato (Reihe “400”) 435-401-436 entstand 1961 aus den Wagen 344-105-346. Diese Wagen hatten zwei Plattformen (wie 845-808-846) und der Zug fuhr nur auf der Linie nach Vimercate. Nach der Stillegung wurde er 1981 verschrottet. Anfangs war er in einer ungewähnlichen Farbgebung in beige & olivegrün unterwegs. Zug 837-805-838 wurde 1965 (nur in 1200 Volt-Ausführung) aus den Wagen 343-134-345 umgebaut. Dieser Zug und auch 807 & 809 gingen 1980 den Weg zum Schrott.

    ↑ Tw 510 “stazione” via Valtellina, 8.6.1991

Nachfolgend eine Übersicht über die Wagennummern der heute noch vorhandenen “Treni Bloccati”:

 

  • Beiwagen – (ursprünglich) 103 Wagen. In den letzten Jahren ist die Zahl der eingesetzten Beiwagen stetig zurückgegangen. Derzeit verkehrt nur auf der Linie nach Mombello morgens zur HVZ ein Altbauzug mit 3-4 Beiwagen (meist nur 3). Weniger als ca. 10 Bw sind überhaupt noch einsatzfähig. Alle wurden zwischen 1960 und 1963 modernisiert. Sie stammen aus den Jahren 1918-29.Im Einsatz (bzw. einsatzfähig) sind noch folgende Bauarten:
    • Rimorchi tipo Costamasnaga trasformato con Porte all’Estremità: Bw 181…257
    • Rimorchi tipo Carovana trasformato con Porte all’Estremità: Bw 148…179
    • Rimorchi trasformato con Porte all Centro: Bw 189…262.


    ↑ Rimorchi trasformato con Porte all Centro Bw 231 “stazione” via Valtellina, 29.5.1978

 


↑ Treno Bloccato (Sw #546) erreicht die neue Endstation Affori der Limbiate-Linie, 2000 (Photo © Marco Lambruschi)

Weitere Streckenstillegungen gab es in 1956 als die Zweiglinie nach Cinisello aufgegeben wurde. Im gleichen Jahr fuhr auch die noch immer dampfbetriebene legendäre Bahn Milano – Magenta (“Gamba de legn”) zum letzten Mal. Zwei Jahre später folgten dann die allerletzte der noch verbliebenen Dampfbahnen Monza – Trezzo – Bergamo. In den 60er Jahren wurden die Linien Milano – Monza und Milano – Corsico aufgegeben. So wurde ein großer Teil des Wagenparks überflüssig und in den meisten Depots entstanden Schrottplätze. Es waren so viele Wagen überflüssig, daß nicht nur die ältesten Zweiachsanhänger den Weg allen alten Eisens gingen sondern sogar erst kürzlich beschaffte Anhänger.<

1968 wurde die Linie Milano – Gorgonzola – Vaprio – Cassano auf Stadtbahnbetrieb umgebaut. Hierzu entwickelte man die dreiteiligen “Treni Bloccati”, die aus vorhandenen Wagen umgebaut wurden. So konnte man auch der modernisierten Strecke einen Schnellverkehr mit dichtem Takt anbieten. Durch den Einsatz dieser “Triebzüge” entfiel endlich das zeitaufwendige Umsetzen der Triebwagen am Endbahnhof. Die Strecke wurde als zweigleisige Anlage auf eigenem Gleiskörper neben der Straße neu errichtet, und so konnte die Geschwindigkeit auf 70-80 km&h erhöht werden. Die “neuen” Wagen erhietel eine hübsche gelb/weiße Farbgebung. 1972 wurde diese Stadtbahnstrecke dann in die U-Bahn-Linie 2 integriert und die Wagen durch U-Bahn-Fahrzeuge abgelöst.


↑ Rimorchi tipo Carovana trasformato con Porte all’Estremità (Costamasnaga) Bw 157 in der “stazione” via Valtellina, 12.6.1991


↑ OEFT Bw 322 in der “stazione” via Valtellina, 29.5.1978. Diese Fahrzeuge wurden in den 60er Jahren fast alle zu Steuerwagen der Reihe 800 umgebaut.

Die “gelben Trams” fuhren bis 1978 aber noch zwischen Gorgonzola und Vaprio. Nachdem auch diese letzte Linie des einstigen Adda-Netzes stillgelegt war, gelangte der Wagenpark zur Linie Milano – Vimercate im Brianza-Netz. Aber auch dort war bald Schluß: als die U-Bahn nach Cologno Nord verlängert wurde, legte man die Überlandstrecke nach vimercate am 7.6.1981 still. Ebenfalls in den 80er Jahren wurde die Strecke Milano – Carate nach Desio verkürzt und der Wagenpark in die in Italien übliche orangene ÖPNV-Farbgebung umlackiert.

Die städtische Linie 15 wurde 1986 nach Rozzano verlängert und ist seitdem eine Art Überlandbahn. Es werden allerdings normale Straßenbahn-Tw der Reihe 4900 (“jumbo-tram”) eingesetzt. Die Linie wird in manchen offiziellen Veröffentlichungen auch als Linie T3 bezeichnet. In den90er Jahren erfolgten dann die vorerst letzten Stillegungen. Im Rahmen des Ausbaus der U-Bahn-Linie 3 in den Nordwesten Mailands wurde die Zweiglinie nach Milanino aufgegeben und einige der dort verkehrenden hübschen Tw 110-128 verschrottet. Die Abfahrtstelle in der via Valtellina wurde aufgegeben (damit auch die Verbindung ins städtische Netz) und die zwei verbliebenen Linien bis zum Stadtrand zurückgezogen.


↑ Reggio Emilia Tw 85 ausfahrend aus Deposito Varedo, 13.6.1991.

Hier noch eine Streckenübersicht um 1896, als die Überlandstraßenbahnen noch per Dampf angetrieben wurden. Lediglich Milano – Monza und Milano – Affori waren noch Pferdebahnen (wurden dann dafür aber mit auch zuerst elektifiziert):

 


↑ Winter: Treno Bloccato (Sw 536) in Affori, 2001. (Photo © Marco Lambruschi)

Diese neuen temporären Endhaltestellen (erreichbar nur per Bus) haben gewiß dazu beigetragen, daß die Fahrgastzahlen sich sehr rückläufig entwickeln. Nach neuesten Plänen der ATM soll die Bahn nach Desio zweigleisig ausgebaut werden und sogar wieder bis Seregno verlängert werden, allerdings soll die Ortsdurchfahrt in Desio entfallen und das schnuckelige Kleinbahndepot in Desio ersetzt werden. Die Bahn nach Limbiate (Mombello) wird evtl. stillgelegt. Neue “Vorort”-Stadtbahnen nach Cinisello und Niguarda sollen gebaut werden. Die modernisierten Linien und neuen Strecken sollen mit Niederflurfahrzeugen bedient werden. Hoffentlich werden einige der alten Überlandfahrzeuge museal erhalten!

Nachfolgende Streckenkarte zeigt den heutigen Stand (2003) mit den an den Stadtrand zurückgezogenen Endstellen Affori (SL179) und Niguarda Dazio (SL178). Stillgelegte Linien sind “dünn” eingezeichnet. Das angedeutete Stadtnetz (rot) wird derzeit Richtung Parco Nord verlängert – es handelt sich hierbei um die alte Gleisanlage der SL178:

Unser Dank gilt Marco Lambruschi für das Originalmanuskript und die Streckenübersichten.